Wie Funktion das Leben übernimmt.

Als der Tod in mein Leben trat.

Ich erinnere mich an den Tag als ich Ronja Abigail im Arm hatte als wäre es gestern gewesen. Das war im Krankenhaus, am Morgen nachdem Steffi sie zur Welt gebracht hat. Ein so wundervolles Wesen, ganz perfekt und komplette aber so unglaublich kalt und ein wenig von dieser Kälte sickerte in mein Herz und hätten es beinahe zum Stillstand gebracht.

Aasgeier greifen an.

Der Stillstand bleibt aus und schon am selben Morgen, etwas später, bekomme ich einen ersten Vorgeschmack darauf, was jetzt auf mich zukommen wird. So gegen Mittag kommt jemand zu uns ins Zimmer und versucht uns eine Beisetzung zu verkaufen. Ich gebe dieser Sorte Mensch in diesem Moment die Bezeichnung Aasgeier und ich denke immer noch das es das ziemlich gut trifft.

Was die Gesellschaft von dir fordert...

Wie auch immer, es geht weiter mit Entscheidungen die ich nicht treffen will, Behördengänge die ich nicht machen will und Leuten die einem etwas verkaufen wollen. Es bleibt kaum Zeit für Ronja und so war sie zu dieser Zeit nicht nur aus der Welt gegangen sondern drohte auch aus meinen Gedanken zu verschwinden. Ich war gezwungen zu funktionieren.

Die Arbeit.

Ich habe wundervolle Kollegen und den besten Chef den man sich nur wünschen kann. Zwei Monate bleibe ich zu hause. Ohne Krankschreibung, ohne Urlaub zu nehmen. Dann quält mich das schlechte Gewissen.
Ich fange wieder an zu arbeiten, merke aber schnell das es mir schwer fällt mich zu organisieren. Mein Zeitgefühl ist nicht mehr synchron mit dem Rest der Welt. Am Ende geht es mir so schlecht das ich Steffi nachgebe und mich einer psychologischen Voruntersuchung unterziehen lasse. Dort diagnostiziert man eine "Schwere depressive Phase"... Krankenhaus, weitere finanzielle Einbußen und immer noch keine Hilfe. Entlassung nach drei Monaten.

Verantwortung oder "Du mußt..."

Und wie mich viele verletzt haben mit ihrem: "Es muß ja weiter gehen." Und dem: "Du mußt jetzt auch an den Rest deiner Familie denke." Wer glaubt eigentlich wirklich das solche Aussagen trösten? Sie tun es nicht!
Ich kenne meine Verantwortung und ich stelle mich ihr, aber ich muß überhaupt gar nichts! Niemand muß etwas, wir sind alle freie Menschen.

Lichtblicke...

Während all dieser Zeit gibt es natürlich auch einige Lichtblicke und ich wäre ungerecht würde ich diese nicht erwähnen.
Völlig unbekannte Menschen helfen finanziell ganz von sich aus. Die Hilfsbereitschaft dieser Menschen ist einfach atemberaubend.
Der Soziale Dienst im Krankenhaus versucht das Seinige um zu helfen. Auch meine Therapeutin versucht nach Kräften zu helfen.
Nicht zu vergessen meine tollen Kollegen und mein Chef.
Und dann... ein neues Wunder. Wir erwarten wieder ein Kind.

Es geht weiter...

Ich arbeite jetzt wieder voll. Keine Wiedereingliederung, das können wir uns einfach nicht leisten.
Wieder zeigt sich wie großartig meine Kollegen und mein Chef sind. Ich teile ihnen mit das ich mich überfordert fühle von dem organisatorischen Aspekt meiner Arbeit und sie sind alle bereit damit zu leben und das mit zu tragen.
Dinge fangen an sich halbwegs zu normalisieren und ich schaffe es wirklich mich auf das neue Leben das jetzt bald kommt zu freuen.
Leider schaffe ich es wieder nicht immer genug zu hause zu sein. Ich muß arbeiten, aber ich bin immer dabei wenn unsere Hebamme kommt, höre das kleine Herz und sehe und spüre das Kind strampeln.

Schwarzes Loch.

Steffi macht sich Sorgen. Das Kind hat sich eine ganze Weile nicht bewegt und unser Frauenarzt hat bald Urlaub.
Ich überrede Steffi dort anzurufen und zu fragen ob wir kurzfristig vorbei kommen können um abzuklären ob etwas nicht stimmt. Der Ultraschall zeigt nichts Auffälliges und wir gehen wieder nach Hause. Drei Tage später kommt unsere Hebamme und auch sie kann nichts Problematisches feststellen. Inszwischen hat sich das Kind auch wieder bewegt und ich denke es wird schon alles gut sein.
Wieder drei Tage später, am Sonntag dem 7.10.2016 ist unser Sohn Fergus Wilko tot und kommt einige Tage später, am 11.10.2016 bei uns zu Hause zur Welt. Ich helfe Steffi bei der Geburt. Wieder funktioniere ich, und ich funktioniere noch immer.
Ich habe meinen Glauben verloren, an einen gütigen Gott, an ein Universum das irgendwie einen Sinn hat oder in dem Gerechtigkeit herrscht. Es ist anders als bei Ronja's Tod. Irgendwie scheint man Routine in so etwas zu bekommen.
Was für eine Scheiße.

Was macht den Unterschied?

Ich komme zu der Überzeugung das das Universum ein kaputter, sinnloser Ort ist, den man nicht vorhersehen kann. Wenn überhaupt etwas einen Unterschied macht, wenn irgend etwas diesem Universum einen Sinn geben kann, dann nur die Taten von Menschen.
Ich schaue mir die Menschen an... ich schaue mir an was in der Türkei passiert... ich schaue mir an was in Polen passiert... Ich schaue mir an was hier passiert... die Menschlichkeit liegt wieder einmal im sterben... ich habe wenig Hoffnung für dieses Universum. Es tut mir leid.

Funktion

Das Problem ist, das wir alle nur noch funktionieren und nicht mehr leben. Wir werden von Klein an darauf trainiert in einem System zu funktionieren das ebenso kaputt ist wie das Universum selbst. Konformismus über Realismus. Wir haben Angst und diese Angst wird geschürt, damit wir funktionieren.
Darum verändert sich nichts, darum wandern wir alle wie Lemminge auf den Abgrund zu und schreien im Chor: "Gott, Universum, wer auch immer ... Haltet uns auf."

Es gibt Niemanden und Nichts das uns aufhalten wird.

Das Universum ist kaputt. Es ist unsere Aufgabe es besser zu machen.

Hört auf zu funktionieren und fangt wieder an zu leben.
Gute Nacht.